Was bleibt von mir? – Über Krebs, Lyrik und das, was wirklich zählt
Eine Diagnose wie ein Schlag in den Magen
Es gibt Momente im Leben, die alles verändern. Momente, die wie ein Schlag in den Magen wirken
und die Welt von einer Sekunde auf die andere aus den Angeln heben. Für mich war ein solcher Moment
im Herbst 2012 – im Oktober oder November, ganz genau weiß ich es heute nicht mehr. Vielleicht habe ich es verdrängt,
vielleicht verschwimmt diese Zeit auch deshalb so, weil ich sie in einer Art Trance erlebt habe.
Alles war plötzlich unwirklich, nebelhaft, kaum zu greifen.
Die Diagnose: Krebs.
Von da an verschoben sich alle Maßstäbe. Die kleinen Alltagssorgen, die sonst soviel Raum einnahmen, traten in den Hintergrund. Plötzlich gab es nur noch ein Ziel: gesund werden. Überleben. Doch seltsamerweise war es nicht die Angst vor dem Sterben,
die mich am meisten umtrieb. Es war etwas anderes, viel schwerer zu tragen: das Gefühl, meine Familie im Stich zu lassen.
Damals waren meine Söhne gerade einmal 12 und 4 Jahre alt – zwei Kinder voller Neugier, voller Fragen, voller Zukunft. Und ich fragte mich: Was würde es für sie bedeuten, wenn ihre Mutter plötzlich nicht mehr da ist? Würde mein Großer viel zu früh erwachsen werden müssen? Würde der Kleine mich überhaupt noch bewusst in Erinnerung behalten? Auch der Gedanke an meinen Mann ließ mich nicht los: Wie sollte er all das alleine stemmen – Alltag, Sorgen, Zukunftspläne? Und meine Eltern, meine Schwiegereltern, die Freunde, die uns nahestanden – wie würden sie mit diesem Verlust umgehen?
Es war weniger die Furcht vor meinem eigenen Ende, sondern dieses bohrende Schuldgefühl, all die Menschen, die mir so wichtig sind, mit meiner Abwesenheit allein zu lassen. Ich fühlte mich, als würde ich sie im Stich lassen, obwohl ich selbst nichts dafür konnte. Diese Gedanken waren oft schwerer zu ertragen als die Krankheit selbst. Heute, viele Jahre später, ist der Krebs längst nur noch eine Erinnerung. Geblieben sind die Narben der Operationen – und die tiefe Erkenntnis, dass das Leben unendlich kostbar ist und jeder einzelne Tag ein Geschenk.
Warum Gedichte?
Als Kind hatte ich große Träume – so wie viele Kinder. Berühmt wollte ich werden, vielleicht als Sängerin oder Tänzerin. Ich stellte mir vor, wie ich auf einer Bühne stehe, Applaus im Ohr, Scheinwerferlicht im Gesicht. Doch die Realität war… nun ja… etwas anders. Mit einer Stimme, die allenfalls für das Mitsingen auf Festivals taugt, war eine Karriere als Sängerin ungefähr so wahrscheinlich wie ein Fisch auf einem Apfelbaum. Und auch das Tanzen stellte sich schnell als Illusion heraus: Mit der Eleganz eines Walrosses und einem Timing, das selbst die Deutsche Bahn zuverlässig erscheinen lässt, war klar, dass meine Zukunft nicht auf den großen Bühnen dieser Welt lag. Und ehrlich gesagt: Zum Glück! Denn ich war schon immer viel zu schüchtern, um das Rampenlicht zu genießen. Mir ging es nie darum, möglichst laut zu sein. Viel wichtiger war und ist es mir, gehört zu werden – mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen, meiner Sicht auf die Welt. Und dafür habe ich früh die Lyrik entdeckt.
Die Magie der Poesie
In Gedichten steckt für mich eine besondere Kraft. In wenigen Worten können sie ganze Welten eröffnen, Gefühle greifbar machen und Bilder malen, die tiefer wirken als lange Reden. Lyrik ist leise – und doch so stark. Sie kann Mut machen, Hoffnung schenken oder Menschen zum Nachdenken bringen. Genau das habe ich gebraucht, als ich selbst durch dunkle Zeiten ging. Und genau deshalb schreibe ich bis heute: weil Worte Brücken bauen können, wo sonst vielleicht nur Stille wäre. In der Poesie habe ich einen Ort gefunden, an dem ich ganz ich selbst sein darf.
Ich muss nicht im Rampenlicht stehen, um gehört zu werden. Meine Worte können hinaus in die Welt gehen, leise vielleicht, aber spürbar – und manchmal reicht genau das.
Und das bringt mich zurück zu der Frage: Was bleibt von mir, wenn ich gehe?
Vielleicht sind es nur ein paar Gedichte, vielleicht auch nur ein einziges Buch. Aber wenn auch nur ein Mensch in meinen Worten Hoffnung findet, wenn auch nur jemand ein Stück Kraft daraus schöpft oder für einen Moment innehält, dann habe ich das Wichtigste erreicht: Spuren zu hinterlassen.
Der Krebs hat mir gezeigt, wie zerbrechlich das Leben ist. Die Lyrik hat mir gezeigt, wie wertvoll es ist, etwas von sich zu teilen – nicht laut, nicht groß, aber ehrlich und echt. Denn am Ende kommt es nicht darauf an, wie groß unsere Bühne ist oder wie viele Menschen unseren Namen kennen. Es kommt darauf an, wie tief unsere Worte berühren und wie lange sie im Herzen eines anderen nachklingen.
Und heute, viele Jahre später,blicke ich mit Dankbarkeit auf die Zeit zurück. Meine Söhne sind längst keine Kinder mehr – sie sind erwachsen geworden, haben ihre eigenen Wege eingeschlagen. Ich durfte ihre Kindheit und Jugend miterleben, durfte sehen, wie aus kleinen Jungen starke junge Männer wurden. Das erfüllt mich mit tiefer Freude und Demut. Vielleicht ist genau das mein größtes Geschenk: noch hier zu sein, um das Leben mit meiner Familie teilen zu dürfen – und Worte zu hinterlassen, die bleiben.
5 Antworten
Vielen Dank dass du deine Erfahrungen teilst. Es hilft sehr um eigene Erlebnisse zu verarbeiten. Ich selbst bin nicht vom Krebs betroffen, dennoch sind in meinem Umfeld viele betroffene.
Die letzten drei Jahre war ich für viele der Hoffnungsträger geworden, um Unterstützung zu bieten für die, die an einem Ort leben wo nebst dem Krebs der tobende Krieg die nächste Bedrohung ist.
Letzten Dienstag sind es bereits drei Jahre her, als ich das durchlebte was ich nie hoffte zu erleben. Die Hand eines Kindes zu halten das ein Engel wurde und die verzweifelte Schreie einer Mutter, die eine weite Reise mit ihrem Kind hintersich hatte um Hoffnung zu finden.
Nun in dieser dunklen Stunden hat sich eine neue Pforte geöffnet, den Mut zu haben um weitere Kinder und Familien in diesen schweren Zeit Hoffgnung zu geben, dank einer sehr Aufopfernden Person einer Stiftung. Die Narbein bleiben, aber die Erfahrung bringt und weiter.
Lieber Daniel,
deine Worte haben mich sehr bewegt. Es ist unglaublich berührend, wie du trotz all der schweren Erfahrungen die Kraft findest, Hoffnung weiterzugeben. 🌹
Wenn du magst, darfst du gerne den Namen der Stiftung nennen, von der du sprichst – vielleicht können wir gemeinsam ein wenig dazu beitragen, dass sie noch mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung erhält.
Herzliche Grüße
Anja
Liebe Anja!
Du hast mich mit deiner offenen Art in deinen Bann gezogen…Mein Mann, der Vater meines Sohnes ist am 24.08.2017 an Lungenkrebs gestorben…Die Diagnose wurde gestellt, als er das Stadium 4 erreicht hatte…Die letzten 4 Wochen waren eine Herausforderung für ihn und für mich mit 7, 5 m Schlauch bis zum flüssigen Sauerstoff…Es wühlt mich auf, wenn ich daran denke…
Was du da lässt, sind deine Kinder…Du hast dein Soll erfüllt…
Liebe Galina,
deine Worte haben mich sehr berührt. Ich kann fühlen, wie schwer diese Zeit für dich gewesen sein muss. Dein Verlust und die Erinnerungen daran gehen tief. Danke, dass du das mit mir geteilt hast. Fühl dich ganz lieb umarmt. ❤️
Liebe Anja,
deine Welt ist Poesie, meine eher Prosa, Prosa des Lebens,Prosa des Alltags…Wobei ich Poesie, die Dichtung sehr mag…In meinem sozialen Umfeld habe ich mit der krebskranken Freunden, Nachbarn, ja auch mit meinem Mann sowohl positive als auch traurige Erfahrungen gesammelt…Wenn ich mehr Zeit habe, würde ich dir mehr davon erzählen bzw.schreiben…